Tosca, Rosa und Carmen kommen langsam aber kontinuierlich voran. Meter für Meter fressen sich die drei Tunnelbohrmaschinen durch den Untergrund der Stadt Köln, um die Röhren der künftigen Nord-Süd-Stadtbahn zu erzeugen. Tosca, Rosa und Carmen sind hart im Nehmen. Ihre Schneidräder mit einem Durchmesser von mehreren Metern bewältigen Erdreich und Gestein von zwei Jahrtausenden. Probleme würden ihnen jedoch alte, stillgelegte Strom- und Gasleitungen oder alte Wasserbrunnen bereiten, wenn diese eine bestimmte Größe überschritten. Da trifft es sich gut, dass die Kölner RheinEnergie AG ein akribisch geführtes historisches Archiv unterhält. „Große Rohre bleiben, wenn sie eines Tages nicht mehr benötigt werden, in der Regel im Erdreich liegen“, erzählt Birgit Becker. Die Archivarin in Diensten der RheinEnergie hat im Archiv des Unternehmens alte Pläne gefunden, auf denen sämtliche Altleitungen verzeichnet sind. „Diese kommen den Kölner Verkehrs-Betrieben nun zu gute!“

Szenenwechsel: Sommer 2000, Dreharbeiten zu „Die Manns“, einem TV-Dreiteiler über Thomas und Heinrich Mann und deren Familien. Für das tragische Ende von Klaus Mann, der sich in Cannes das Leben nahm, sucht das Filmteam dringend Originalrequisiten – unter anderem eine Schachtel des Schlafmittels Veronal in Vierzigerjahre-Optik. Da trifft es sich gut, dass auch die Bayer AG ein akribisch geführtes historisches Archiv unterhält. Dessen Leiter, Michael Pohlenz (siehe auch Interview Seite 16), ist nämlich nicht nur Herr über Millionen von Dokumenten, Fotos und Filmen, sondern auch Tausende von Exponaten. „Wir konnten dem WDR-Team helfen, unser Archiv enthält eine umfangreiche Sammlung an Originalpackungen von Bayer-Produkten!“

Und noch ein Szenenwechsel: Großbrand bei der Kölner Deutz AG – ein Gebäudekomplex aus der Zeit um 1900 wird komplett vernichtet – dem Unternehmen drohen immense finanzielle Schäden. Zum Glück gibt es eine Feuerversicherung. Doch diese will nur für den Schaden „an einem alten Mauerwerk“ aufkommen, wie es Dietmar Voß formuliert. Auch hier trifft es sich gut, dass es einen Fachmann für die Unternehmensgeschichte gibt. „Meine Recherchen ergaben“, sagt Voß, der als Ingenieur lange Jahre bei Deutz Motoren entwickelt hat und später die historische und technische Publizistik der Deutz-Presseabteilung geleitet hat, „dass die Gebäude im Zweiten Weltkrieg zu über zwei Dritteln zerstört und anschließend neu errichtet worden waren.“ Die Versicherung musste also einen wesentlich höheren Zeitwert erstatten!

Die Zukunft im Sinn
Diese drei Beispiele zeigen, dass ein Archiv zwar allein schon seiner Bestimmung nach ausschließlich Vergangenes birgt – damit aber zugleich jederzeit auf der Höhe der Zeit ist. „‚Man muss die Zukunft im Sinn haben und die Vergangenheit in den Akten‘ – diese Feststellung Talleyrands, eines französischen Staatsmannes des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, hat auch heute uneingeschränkte Gültigkeit“, ist Dr. Ulrich Soénius überzeugt. „Mit dem Wissen der bisherigen Entwicklungen im Hinterkopf können vor allem auch Unternehmen neue Ziele deutlicher stecken und Irrwege vermeiden.“ Wenn es anders wäre, dann hätte Soénius nicht soeben groß gefeiert. Ja, Weihnachten und Neujahr auch, vor allem jedoch den 100. Geburtstag des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs zu Köln (RWWA), dessen Direktor Soénius ist. Das RWWA ist das älteste regionale Wirtschaftsarchiv der Welt – es birgt heute nicht nur die Bestände sämtlicher rheinischen Industrie- und Handelskammern, sondern auch von über 300 großen, mittleren und kleinen Unternehmen, darunter das Archiv der Deutz AG mit den Originalquellen seit der Erfindung des Otto-Motors.
Auch 1906 war man sich in Wirtschaftskreisen also schon der Bedeutung von Firmenarchiven bewusst. „Um für die Geschichtsbücher von morgen die Quellen von heute zu sichern“, so drückt es Soénius aus, gründeten die damalige Handelskammer Köln und die Stadt Köln vor 100 Jahren das RWWA. Erster hauptamtlicher Archivar – und damit überhaupt der erste hauptamtlich tätige Wirtschaftsarchivar Deutschlands – wurde Mathieu Schwann, der als Journalist bei der Kölnischen Zeitung tätig war. Er begann damit, bei den Unternehmerfamilien, aber auch anderen Handelskammern, Akten einzuwerben und so nach und nach das Archiv aufzubauen. Tatkräftige Hilfe erfuhr er durch den Vizepräsidenten und späteren Präsidenten der Handelskammer Köln, Josef Neven DuMont. Dieser habe früh erkannt, erzählt Soénius, dass wichtige Wirtschaftsunterlagen aufgehoben werden müssen, und mit hohem persönlichen Einsatz die Entwicklung des RWWA unterstützt.
100 Jahre später ist das RWWA aus dem Wirtschaftsleben der Region, für die Forschung aber auch weit darüber hinaus, nicht mehr wegzudenken. Sieben feste Mitarbeiter, darunter drei Wissenschaftler, und derzeit neun Projektkräfte kümmern sich um 360 Bestände mit Millionen von Dokumenten und rund 300.000 Fotos auf 14 Regalkilometern. Eine Besonderheit des RWWAs sind Firmenfestschriften – so genannte graue Literatur, also solche, die nirgendwo erfasst wird und keine ISBN trägt wie herkömmliche Buchtitel. „Mit mehr als 20.000 Exemplaren aus über 100 Jahren verfügen wir über die größte Firmenfestschriften-Sammlung Deutschlands“, erzählt Soénius.
Firmenjubiläum ohne Akten?
Das RWWA, seit dem Jahr 2000 eine Stiftung, erfüllt vor allem zwei Zwecke. Es versteht sich zum einen als Rettungsstation für historisch bedeutendes Schriftgut der Wirtschaft, indem es dieses sichert, erschließt und dauerhaft aufbewahrt. Zum anderen ist das RWWA eine Serviceeinrichtung für die Wirtschaft: Es berät und betreut Unternehmen, Verbände und Wirtschaftskammern bei der Einrichtung und Pflege eigener Archive und steht auch mit Rat und Tat zur Seite, wenn Firmen die eigene Geschichte dokumentieren, Festschriften verfassen oder historische Konzeptionen erarbeiten wollen. Darüber hinaus ist das RWWA eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung mit Verbindungen zu den rheinischen Universitäten, es betreibt eigene Forschungen zur IHK-, Verbands- sowie Firmen- und Unternehmergeschichte.
Viele Unternehmen im IHK-Bezirk Köln verfügen mittlerweile über eigene Archive, immer mehr erkennen deren Bedeutung. Ist die Archivgründung neueren Datums, so liegt ihr häufig ein ähnlicher Anlass zugrunde: ein Firmenjubiläum. Der Fall der RheinEnergie AG, früher Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke der Stadt Köln, ist exemplarisch: 1997 feierte das Unternehmen sein 125-jähriges Jubiläum, ausgehend von der Gründung des ersten städtischen Wasserwerks 1872. „Bei den Vorbereitungen stießen meine Kollegen auf alle möglichen alten Unterlagen, die in den einzelnen Abteilungen vorhanden waren“, berichtet Birgit Becker. 1995 sei dann die Idee geboren worden, ein festes Archiv einzurichten, um die Unternehmensgeschichte systematisch zu erfassen. 2001 war es schließlich so weit, und seitdem kümmert sich die fest angestellte Historikerin um das Archiv des Energieunternehmens.
Auch für die Kreissparkasse Köln (KSK) war die 150-Jahr-Feier im September 2003 „die erste große Bewährungsprobe“ für das drei Jahre zuvor mithilfe des RWWA eingerichtete Unternehmensarchiv. Dessen Betreuer, der Historiker und Wirtschaftsarchivar Dr. Helmut Gabel, hat die Sammlung systematisch aufgebaut und ist überdies damit beschäftigt, die Archivbestände der kleineren Sparkassen zu integrieren, mit denen die KSK im Laufe ihrer Geschichte fusionierte. Und nicht nur das: „Diese ehemals selbstständigen Institute – nunmehr Filialen der KSK – feiern ihrerseits ebenfalls Jubiläen“, so Gabel. Die Folge: Das Archiv ist gefragt, ob für eine Festschrift, eine Ausstellung oder die Rede des Vorstandschefs.

Protokolle und Motoren
Doch was muss alles aufgehoben werden? „Etwa 95 Prozent aller Unterlagen können nach dem Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfristen vernichtet werden“, weiß RWWA-Direktor Soénius (siehe Kasten Seite 17). „Die restlichen fünf Prozent der Geschäftsunterlagen gehören im Anschluss in das Unternehmensarchiv!“ Diese „fünf Prozent“ können alles Mögliche sein – Geschäftsberichte, Fotos, Gründungsurkunden, Sitzungsprotokolle sowieso, aber zum Beispiel auch Motoren. Denn Unternehmensgeschichte ist ja meistens auch Produktgeschichte. „Uns erreichen jährlich rund 600-800 Anfragen“, erzählt Dietmar Voß, seit 1993 ehrenamtlicher Leiter der Unternehmensgeschichte der Deutz AG. „Sehr viele davon beziehen sich auf ehemalige Motoren.“ Deshalb hat das Unternehmen schon vor weit über 100 Jahren damit begonnen, neben den klassischen Geschäftsunterlagen auch Ersatzteillisten, Prospekte und Produktbeschreibungen im RWWA zu archivieren – und historische Motoren aus eigener Produktion zu sammeln, die ab März im neu eingerichteten Werksmuseum am neuen Standort Köln-Porz präsentiert werden.
Keine Ersatzteillisten, dafür jedoch CAD-Zeichnungen hat Ulrich Melk derzeit auf seinem Schreibtisch liegen. Melk ist bei der BPW Bergische Achsen KG in Wiehl zuständig für Dokumentenverwaltung und Archiv – und bewahrt ebenfalls längst nicht nur Geschäftsberichte und Jahresabschlüsse, Gründungsakten und Geschäftskorrespondenz auf. „Zurzeit besprechen wir, wie sich die vielen CAD-Zeichnungen unserer wichtigsten Produkte dauerhaft erhalten und archivieren lassen“, berichtet der Herr über das BPW-Archiv. Die Unternehmerfamilie Kotz habe von Anfang an ein großes Interesse daran gehabt, die Firmen- und Familiengeschichte zu dokumentieren, erzählt Melk. Ergebnis waren bereits 1952 die Einrichtung eines öffentlich zugänglichen Museums, das bis heute 5.500 Jahre Geschichte von Achse, Rad und Wagen zeigt, sowie die Gründung eines Firmenarchivs – beides unter professioneller Leitung.
Ein weiteres großes Firmenarchiv im Oberbergischen beherbergt die Schmidt + Clemens GmbH + Co. KG aus Lindlar. Das Edelstahl-Unternehmen entschloss sich vor rund 20 Jahren, die damals schon 100-jährige Firmengeschichte systematisch zu dokumentieren – aus Traditionsgründen. „Schmidt + Clemens ist ein Familienunternehmen, heute schon in der vierten Generation, und davon gibt es nicht mehr so viele“, weiß Paul Schmidt, der 1982 mit Hilfe des RWWA begann, das Archiv aufzubauen. „Die Familie hatte Unterlagen zu Hause und im Unternehmen, außerdem verfügten einige leitende Angestellte über Aufzeichnungen.“ Das alles trug Schmidt zusammen und legte so den Grundstock zum Firmenarchiv. Genutzt wird es vor allem intern, auch als Privatarchiv zur Familiengeschichte, doch gebe es, so Schmidt, auch externe Nutzer, etwa das Industriemuseum Engelskirchen, das Kreisarchiv Gummersbach oder die Gemeinde Lindlar, die demnächst ihr 900-jähriges Jubiläum feiert.

Hüter der Tradition
Unternehmens- und Familienarchiv – das lässt sich auch und vor allem bei Sal. Oppenheim nicht trennen. Das private Bankhaus von 1789 ist eines der ältesten in Deutschland und noch heute in Familienbesitz. Als Vertreter der siebten Generation gehört Baron Christopher von Oppenheim zum Kreis der fünf persönlich haftenden Gesellschafter, die die Bank führen. Deren Archiv existiert seit 1939 – und hat eine ungewöhnliche Gründungsgeschichte. Wie viele andere ist es im Zuge eines Unternehmensjubiläums entstanden – des 150-jährigen. Ein Historiker war mit den Vorbereitungen befasst, starb jedoch 1935. Mittlerweile hatten die Nationalsozialisten die Macht übernommen, und unter deren Druck sah sich das Bankhaus jüdischer Herkunft gezwungen, ab 1938 als „Pferdmenges & Co.“ zu firmieren, nur ein Jahr vor der Gründung des Archivs. Dem mutigen Schritt ihres damaligen Teilhabers Robert Pferdmenges verdanken die Oppenheims den Bestand ihres traditionsreichen Hauses – und im Kriegsjahr 1939 auch die Einrichtung des Archivs als „Hüter der Tradition“, wie die Historikerin Gabriele Teichmann berichtet, die das Archiv seit 1990 leitet. Weil es rechtzeitig ausgelagert worden war, sind die historischen Bestände des Oppenheim-Archivs vollkommen erhalten, inklusive kulturhistorisch bedeutsamer Gemälde und Fotos der Familie. „Vor knapp 20 Jahren haben wir das Archiv schließlich auch der Fachöffentlichkeit zu Forschungszwecken zugänglich gemacht“, erzählt Teichmann, „und es wird rege genutzt, etwa zur Bürgertumsforschung, zur rheinischen und Kölner Geschichte sowie natürlich zur Wirtschafts- und Bankengeschichte.“
Das Firmenarchiv erfüllt also eine Menge Funktionen. Mit seiner Hilfe lässt sich bei strittigen Grundstücks-, Eigentums- oder Pensionsfragen Rechtssicherheit schaffen. Es bietet Wissenschaftlern unverzichtbare Forschungsmöglichkeiten. Es ist eine wichtige Quelle der Öffentlichkeitsarbeit – Stichwort „Imagefaktor Geschichte“. Doch letztlich ist es noch mehr als das. „Das Archiv ist das Gedächtnis des Unternehmens“, bringt es der Leiter des Bayer-Archivs, Michael Pohlenz, auf eine einfache Formel. Noch deutlicher wird Dr. Ulrich Soénius, der Direktor des Jubilars RWWA. Ihm gebührt das Schlusswort: „Ohne Archiv keine Firmengeschichte – und ohne Geschichte keine Zukunft!“

von Lothar Schmitz
erschienen in: markt + wirtschaft (heute: IHKplus) 1/2007